Historie und Histörchen (104): Der Golf und die Platzreife

Gerade hatte ich das Ressort und damit auch die redaktionelle Verantwortung für die Motorseite und ihre rund 500.000 Leser übernommen. So war die Einladung zur Vorstellung des VW Golf, des zweiten Käfer-Nachfolgers nach dem Passat, ein Schritt von Volkswagen und mir in eine bessere Zukunft. Die neue Rolle verlangte von mir Jungspund vorsichtige Bewegungen. Auf dem glatten Feld der Berufsethik wollte ich angesichts des Konzerns, der aufmerksamen Kollegen und meiner Leser keinesfalls auf die Nase fliegen.

Kurz vorher hatten die Wolfsburger mich schon eimal gereizt. Zur Premiere für den Passat hatte VW an den Vierwaldstätter See in die Schweiz geladen und dabei Kollegen geärgert, weil die Presseabteilung nicht verhindert hatte, dass Kollege Glodschey in der „Bild“ behaupten konnte, er habe das Auto längst vor uns gefahren. Diese Sünde war damals keinesfalls lässlich. Noch galt die alte Regel: Alle Medien in Deutschland berichten am selben Tag. Die Erinnerung an die Debatten in der Schweiz war für mich ein Grund, grundsätzlich zu werden. Warum sollte ich von Hannover wieder in die Schweiz fliegen, wo doch der Flughafen Hannover und Wolfsburg an der A 2 Nachbarn sind? Die trotzige Frage beantwortete die VW-Presseabteilung mit einem Einzeltermin auf dem Testgelände in Ehra-Lessin. Der Kollege Jürgen Schober musste den Neuen aus Hannover begleiten.

Schon nach den ersten Runde auf der riesigen Skid Pad war klar, dass mein privater 65er Käfer ins Museum gehörte. Ich war begeistert vom kleinen Kastenwagen. Doch auf den Fotos meines Fotografen-Kollegen Udo Heuer konnte ich sehen, dass der Golf sein Beinchen gehoben hatte. Das kurveninnere Hinterrad hatte keinen Bodenkontakt. So hatte ich mir das mit meinen Heckmotor- und Heckschleuder-Erfahrungen bei einem modernen Auto nicht vorgestellt. Deswegen lautete meine Schlagzeile am nächsten Sonnabend: „Meisterwerk mit Macken“.

Die Reaktion aus Wolfsburg folgte am Montag: Anzeigenboykott. Das war ein Schock. Aber auch Anlass für klammheimlichen Stolz, bis mir jemand nachwies, dass Luft zwischen Rad und Fahrbahn in solchen Kurven keinen Einfluss auf die Fahrsicherheit hat. Mein Chefredakteur – genannt „Häuptling Schnelle Feder“ – stärkte mir wegen des Prinzips den Rücken.

Die hannoverschen Händler beklagten sich beim Vertrieb in Wolfsburg, weil sie keine Anzeigen schalten durften und ihr Geschäft deswegen litt. Nach vier Wochen war der Spuk vorbei. Die Anzeigen liefen wieder, und ich hatte meine Lektion gelernt, nicht nur über die Rolle der starren Hinterachse im Fronttriebler.

Auch meine Einstellung zu den auch heute immer wieder als politisch unkorrekt empfundenen Einladungen änderte sich. Wieviel mehr Aufwand würde es bedeuten, bei jedem neuen Modell mit einem Wanderzirkus durch die Märkte der Welt zu ziehen. Die Logistik ist einfacher, die Kosten sind niedriger, wenn das „Publikum“ aus aller Welt zu einem Zirkus mit festem Standplatz kommt. Diese Logik führte übrigens später zum Konzept einer zentralen Location für alle Präsentationen aller Hersteller mit Hotel, Rennstrecke, Testgelände, geschickter Verkehrsanbindung und gutem Wetter. Doch Logik ist nicht alles. Da gibt es auch noch das Marketing.

So versuchen wir alle mehr oder weniger Gefallen an der Tatsache zu finden, dass wir für zwei Stunden Kontakt mit einem neuen Auto oft mehr als zwei Arbeitstage hergeben müssen. Wer daran Gefallen findet, weiß nicht, wie sehr der Zeitaufwand für diese Reisen später in den Redaktionen schmerzt. Außerdem verfällt kaum ein Kollege heute noch dem Irrtum, der Hersteller hofiere sie persönlich und nicht den Einfluss ihres Mediums.

Ich kann für mich feststellen: Der Golf und ich erreichten unsere Platzreife parallel. Später erleichterten mir drei Gölfe nachhaltig den Abschied von meinem Käfer. (cen)


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Bilder zum Artikel

Volkswagen Golf I (1974).

Volkswagen Golf I (1974).

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


VW Golf I aus der „Zeithaus“-Sammlung der Autostadt in Wolfsburg.

VW Golf I aus der „Zeithaus“-Sammlung der Autostadt in Wolfsburg.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Autostadt/Ralph Kremlitschka


Mit dem Volkswagen Golf I trat der Dieselmotor ab 1975 endgültig seinen Siegeszug an.

Mit dem Volkswagen Golf I trat der Dieselmotor ab 1975 endgültig seinen Siegeszug an.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


Den VW Golf I zeichnete Giorgetto Giugiaro, hier die GTI-Version.

Den VW Golf I zeichnete Giorgetto Giugiaro, hier die GTI-Version.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


Prototyp Volkswagen Golf I Cabriolet (1976).

Prototyp Volkswagen Golf I Cabriolet (1976).

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


VW Golf I Cabriolet (1979).

VW Golf I Cabriolet (1979).

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


Volkswagen Golf in DDR-Ausführung mit 50-PS-Motor (1977).

Volkswagen Golf in DDR-Ausführung mit 50-PS-Motor (1977).

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


Volkswagen Golf I GTI.

Volkswagen Golf I GTI.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen