Autoland Brasilien (1): Neustart am Zuckerhut

Das Land ist wahrhaft ein Riese. Mit mehr als 8,5 Millionen Quadratkilometern nimmt Brasilien fast die Hälfte Lateinamerikas ein, ist damit doppelt so groß wie alle Mitgliedsstaaten der EU zusammen und nach Fläche und Einwohnerzahl fünftgrößter Staat der Erde. Eigentlich müsste es im Schwellenland Brasilien angesichts seiner Bodenschätze, der Landwirtschaft und einer gut aufgestellten Industrie der Papierform nach gut gehen. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Korruption und Misswirtschaft haben das Land in den vergangenen Jahren in die schwerste Rezession seiner Geschichte getrieben, eine Wunde, von der sich die Wirtschaft nun langsam erholt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für das Bruttosozialprodukt rund zwei Prozent Wachstum in den kommenden Jahren. Die Automobilindustrie zwischen Amazonas und Rio Grande geht gleichzeitig von wesentlich mehr aus: Sie will 2018 prozentual zweistellig zunehmen.

Insgesamt sind auf dem knapp zwei Millionen Kilometer umfassenden Straßennetz – 80 Prozent davon sind unbefestigt – rund 44 Millionen Fahrzeuge unterwegs, 20 Millionen weniger als in Deutschland.

Alles, was auf dem Globus Rang und Namen im Automobilbau hat, ist hier vertreten. So zum Beispiel Audi, BMW, Mercedes-Benz und Volkswagen aus Deutschland sowie Ford, Fiat Chrysler, General Motors, Honda, Hyundai, Jaguar, Peugeot, Renault, Toyota und Volvo aus dem Rest der Welt. Nicht zu vergessen sind unter anderem die deutschen Zulieferer Bosch, Continental, Schaeffler und ZF, die ebenfalls Produktionsstätten im Land von Zuckerhut und Copacabana unterhalten. Insgesamt betreiben 27 Konzerne in 65 Fabriken kompletten Automobilbau oder fertigen Teile, womit sie zusammen 1,3 Millionen Menschen direkt oder indirekt beschäftigen. Was die Automobilproduktion angeht, steht Brasilien im weltweiten Vergleich an zehnter Stelle, als Automarkt auf Platz acht.

Daten und Fakten der vergangenen Jahre glichen allerdings einer Achterbahnfahrt. Von 2002 bis 2006 nahm die brasilianische Autoproduktion um 47 Prozent und von 2007 bis 2013 um 31 Prozent zu. Danach ging es steil bergab. Bis 2016 war ein Produktionsrückgang von 42 Prozent zu verkraften. Ungefähr parallel zu dieser Entwicklung verhielt sich der inländische Verkauf von Personen- und Nutzfahrzeugen. In den vergangenen vier Jahren suchten die Autobauer ihr Heil im Export, den sie in den zehn Jahren zuvor eher vernachlässigt hatten. Immerhin gelang ihnen 2017 der Absatz von über 760 000 Fahrzeugen jenseits eigener Grenzen.

2018 soll alles besser werden. Henry Joseph Junior, Technischer Direktor von ANFAVEA, der Nationalen Vereinigung brasilianischer Kraftfahrzeughersteller, prophezeit für 2018 eine drastische Erholung. Seiner Meinung nach wird die Autoproduktion gegenüber 2017 um 13,2 Prozent auf 3,06 Millionen klettern, der heimische Markt um 11,7 Prozent auf 2,5 Millionen Exemplare und der Export um fünf Prozent auf über 800 000 Fahrzeuge steigen. Als Voraussetzung für die positive Entwicklung nennt er neben bereits in die Wege geleiteten Reformen vieldeutig: „Die Wirtschaft muss sich von den politischen Fakten lösen.“ Zu Deutsch: Es wird höchste Zeit, mit der allgegenwärtigen Korruption im Land aufzuräumen.

„Ich kenne keinen Politiker, der ohne schwarze Kasse in sein Amt gewählt wurde“, bestätigt Jan Woischnik von der Konrad-Adenauer-Stiftung Brasilien. „Es ist nicht nur ein Korruptionsskandal, es handelt sich um eine Systemkrise.“ Und von Transparency International, der weltweit aktiven Agentur zur Bekämpfung der Bestechung, ist zu hören: „Gegen den halben Kongress in Brasilia wird wegen Korruption ermittelt.“

Doch das Volk ist endlich aufgewacht. Mehr und mehr macht sich eine klare Veränderung in der politischen Stimmungslage bemerkbar. Ursache sind eine Rekordarbeitslosigkeit von über 13 Prozent, eine zunehmende Verarmung weiter Kreise der Bevölkerung und große Sorgen um den Bestand der noch jungen Demokratie. Erst 1985 endeten 20 Jahre Militärdiktatur. Dass neuerdings Soldaten die Polizei in den großen Städten wie Rio de Janeiro beim Kampf gegen das organisierte Verbrechen in den Elendsvierteln unterstützen, ist wenig dazu geeignet, die Furcht vor einer Wiederholung der Geschichte auszuräumen.

Nun aber ist Bewegung in den Kampf gegen die Selbstbereicherung der Politik gekommen. „Lava Jato“ – portugiesisch für „Autowäsche“ – heißt sinnigerweise die größte und schlagkräftigste Operation gegen das Bestechungsunwesen, die das Land je gesehen hat. Den Namen verdankt die Aktion einer kleinen Tankstelle in der Hauptstadt Brasilia mit angeschlossener Waschanlage, wo nicht nur Autos, sondern jahrelang in großem Stil schwarzes Geld gewaschen wurde. Hauptakteure dabei waren der halbstaatliche Mineralölkonzern Petrobras und ein Kartell der größten Bauunternehmen des Landes, angeführt vom Baukonzern des deutschstämmigen Milliardärs Marcelo Odebrecht. Riesige Summen garantierten zu einem Teil den Machterhalt der regierenden Parteien, zum anderen flossen sie direkt in die Privatschatullen mancher Politiker.

Mit Lava Jato wird dieses System endlich aufgemischt. Eduardo Vieira, der Präsident des Industrieverbands Rio de Janeiro hat Recht, wenn er sagt: „Um eine Krankheit zu heilen, muss man zuerst einmal leiden. Und das tun wir gerade um ein besseres Brasilien aufzubauen.“

Viel hängt jetzt davon ab, wie die Präsidentschaftswahlen im September ausgehen. Der jetzige Präsident Michel Temer gilt als unbeliebtester Politiker Brasiliens aller Zeiten. Seine beiden Vorgänger, zunächst der charismatische Luiz Inácio Lula da Silva und danach die Wirtschaftswissenschaftlerin Dilma Rousseff, stolperten jeweils über zweifelhafte Vorwürfe unlauterer Geschäfte. Lula wurde gar wegen Korruption zu zwölf Jahren Knast verdonnert. Dennoch will er sich wieder zur Wahl stellen und gilt als aussichtsreicher Kandidat. Kürzlich tauchten neue Dokumente auf, die für seine Entlastung sprechen. Möglicherweise hat die in den Korruptionsskandal tief verwickelte Baufirma Odebrecht der Justiz falsche Dokumente präsentiert, um Lula hinter Gitter zu bringen.

Jetzt ruhen alle Hoffnungen auf der Durchschlagskraft der Task Force Lava Jato. Bei ihr schließt sich der Kreis, denn sie operiert von der Millionen- und Autostadt Curitiba im Süden des Landes aus, wo Siemens und Bosch sowie Audi, Renault-Nissan, VW do Brasil und Volvo Werke unterhalten. Während im örtlichen Gefängnis eine Reihe ehemaliger Unternehmer und Politiker schmoren, hängen im berühmten Oscar-Niemeyer-Museum der Stadt 270 äußerst wertvolle Gemälde, die bei den Korruptionsermittlungen beschlagnahmt wurden. Deren Zurschaustellung gehört zum Konzept von Lava Jato. Es soll so viel Öffentlichkeit hergestellt werden wie nur möglich, um den Versuchen unlauterer politischer Einflussnahme zu begegnen. Zur Erinnerung: Wie sagte Henry Joseph Junior? „Die Wirtschaft muss sich von den politischen Fakten lösen.“ Dann klappt es auch wieder mit der Automobilindustrie.

In der nächsten Folge unserer vierteiligen Serie über Brasiliens Automobilindustrie geht es um MAN/VW in Resende, wo selbstständige Subunternehmer unter der Regie von Volkswagen Nutzfahrzeuge und Omnibusse fertigen. (ampnet/hrr)


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Bilder zum Artikel

Brasilianisches VW-Werk Curitiba.

Brasilianisches VW-Werk Curitiba.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Volkswagen


Autoland Brasilien: die Produktion.

Autoland Brasilien: die Produktion.

Foto: Auto-Medienportal.Net/ANFAVEA


Autoland Brasilien: die Exporte.

Autoland Brasilien: die Exporte.

Foto: Auto-Medienportal.Net/ANFAVEA


Autoland Brasilien: der Markt.

Autoland Brasilien: der Markt.

Foto: Auto-Medienportal.Net/ANFAVEA


Brasiliens Präsident Michel Temer.

Brasiliens Präsident Michel Temer.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Wikipedia


Sonnenaufgang an der Copacabana.

Sonnenaufgang an der Copacabana.

Foto: Auto-Medienportal.Net


Der Zuckerhut in Rio de Janeiro.

Der Zuckerhut in Rio de Janeiro.

Foto: Auto-Medienportal.Net