Autoland Brasilien (3): Von BH aus regiert Fiat Chrysler Lateinamerika

Deutscher, kommst du nach Belo Horizonte oder „BH" wie die Brasilianer sagen, halte deine Nationalität für dich, so bleiben dir peinliche Diskussionen erspart. Immer noch sitzt der Stachel vom 20. Juli 2014 tief. Damals erlitt die vermeintlich unbesiegbare Seleção – so nennt sich die brasilianische Fußball-Nationalmannschaft – im Stadion Estádio Governador Magalhães Pinto von „BH" im Halbfinale der Weltmeisterschaft gegen Deutschland mit eins zu sieben eine nie dagewesene Schlappe. Das hat hier keiner vergessen.

Und so wird der Besucher aus Alemanha bei FCA (Fiat Chrysler Automobiles) auch heute noch mit einem deutlichen Hinweis auf das Desaster von damals und den Worten empfangen: “Das hättet ihr euch sparen können." Es wird wohl noch etwas dauern, bis diese Fußballwunden verheilt sind. Dabei hat die pulsierende Metropole mit ihren zweieinhalb Millionen Einwohnern allen Grund, optimistisch nach vorne zu schauen. Zwar lassen sich Touristen in Belo Horizonte trotz der großartigen Aussicht auf die Berge der Umgebung und dem angrenzenden Staatspark Serra do Rola-Moça mit seiner vielfältigen Flora und Fauna eher weniger blicken. Dennoch eilt der Stadt mit der angeblich höchsten Lebensqualität in ganz Südamerika ein hervorragender Ruf als Wirtschafts- und Kulturzentrum voraus. Bestimmender Faktor in der Ökonomie ist der italienisch/amerikanische Automobilkonzern Fiat Chrysler Automobiles (FCA).

Die Entwicklung von Fiat in Brasilien begann mit dem 1976 in Betrieb genommenen Werk in Belo Horizonte. Inzwischen gilt es als die größte Fahrzeugfabrik in Lateinamerika und eines der größten Werke der Welt mit einer Produktionskapazität von 800 000 Einheiten pro Jahr. In den vergangenen 40 Jahren liefen hier über 15 Millionen Autos vom Band, von denen drei Millionen in 30 Länder außerhalb Brasiliens exportiert wurden. Die riesige Anlage enthält heute neben der Automobilproduktion ein Motoren- und Getriebewerk sowie ein Forschungs- und Entwicklungszentrum. Es umfasst ein Team von 1000 Mitarbeitern, das mit den drei weiteren FCA-F&E-Zentren in den USA, Italien und China kooperiert. Vom amerikanischen Wirtschaftsmagazin „Forbes“ wurde es kürzlich als eines der zehn innovativsten Unternehmen des Landes eingestuft.

Was im Forschungs- und Entwicklungszentrum entsteht, wird zumeist parallel dazu im SIMCenter, dem ersten Zentrum für die Simulation von Fahrzeugdynamik in Lateinamerika, ausprobiert. Auf dem Campus der Universität Coração in Belo Horizonte gelegen, bietet es laut FCA die weltweit fortschrittlichste Simulationstechnologie und besteht aus einer Plattform, die alle Bewegungen eines realen Fahrzeugs mit Hilfe von neun computergesteuerten Hebeln umsetzt.

Das Cockpit mit einem Jeep Renegade-Gehäuse ist mit einem Audiosystem ausgestattet, das Motorgeräusche und Reifenreaktionen wie im richtigen Leben reproduziert. Auf einem gewölbten Bildschirm mit einem Blickwinkel von 230 Grad wird dem Testfahrer im Simulator ein realistischer Kurs vorgegaukelt. Die Cockpitbewegungen harmonieren mit der Situation auf dem Bildschirm und reagieren auf die vom Fahrer ausgeführten Befehle in Echtzeit. Sozusagen als Entschädigung für den Empfang des deutschen Besuchers mit Bemerkungen wegen des verloren gegangenen Halbfinales der Fußball-WM gab das SIMCenter den kleinen Kurs des Hockenheimrings zum Besten. Es kann aber auch andere Strecken wie dichter Stadtverkehr oder kurvenreiche Landstraße.

Zwar bleibt das Cockpit stets das eines Jeeps, per Computer aber lassen sich alle nur denkbaren Fahrzeuge simulieren und die technischen und funktionalen Eigenschaften jeder Komponente wie Stoßdämpfer, Federn, Reifen, Lenkung, Bremsen und Stabilisatoren überprüfen. Im SIMCenter müssen sich beispielsweise unterschiedliche Aufhängungsgeometrien in einer vollständig kontrollierten Umgebung in Echtzeit bewähren, ohne dass eine Teststrecke real gefahren werden muss.

Im Fokus des SIM-Centers steht aber nicht nur die automobile Simulation. Mit Hilfe von Telemetriesignalen wie Geschwindigkeit, Beschleunigung, Lenkradwinkel, Antriebsstrang, Drehmoment und Motorleistung kann neben den Reaktionen des Fahrers eine komplette Analyse von Fahrzeug und Ökosystem erfolgen, in dem es simuliert unterwegs ist. Die im Zentrum angewandte Technologie ermöglicht darüber hinaus die Untersuchung von Daten über das Verhalten des Fahrers in verschiedenen Zuständen, wie Ermüdung, Ablenkung und die Wirkung von Alkohol. Das SIMCenter steht darüber hinaus Fachleuten, Forschern und Studierenden aus verschiedenen Fachbereichen wie Ingenieurwesen, Architektur, Medizin und Psychologie zur Verfügung.

„Das SIMCenter bietet uns die Möglichkeit, dem Fahrer größtmöglichen Realismus in punkto Fahrgefühl zu vermitteln", erklärt Gustavo Costa, Leiter der Abteilung für virtuelle Analyse von Fahrwerken bei FCA. „Damit steht uns die fortschrittlichste Technologie zur Verfügung, um die Autos der Zukunft zu entwickeln. Mit unserem SIMCenter nimmt Brasilien eine Spitzenstellung auf der Welt ein."

Bom, Senhor Costa, ist das nicht Grund genug, das Ereignis vom Juli 2014 endlich zu vergessen?

In der nächsten Folge unserer Serie Autoland Brasilien geht es um die zahlreichen und zumeist vergeblichen Versuche, das beispiellose Verkehrs-Chaos in Sao Paulo in den Griff zu kriegen. (ampnet/hrr)


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Bilder zum Artikel

Belo Horizonte: Das FCA-Werk.

Belo Horizonte: Das FCA-Werk.

Foto: Auto-Medienportal.Net/FCA


Belo Horizonte: Estádio Governador Magalhães Pinto.

Belo Horizonte: Estádio Governador Magalhães Pinto.

Foto: Auto-Medienportal.Net/FCA


Belo Horizonte.

Belo Horizonte.

Foto: Auto-Medienportal.Net/FCA


SIM-Center bei FCA in Belo Horizonte.

SIM-Center bei FCA in Belo Horizonte.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Hans-Robert Richarz


SIM-Center bei FCA in Belo Horizonte: In Brasilien auf dem kleinen Kurs von Hockenheim.

SIM-Center bei FCA in Belo Horizonte: In Brasilien auf dem kleinen Kurs von Hockenheim.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Hans-Robert Richarz


Blick in die brasilianische Auto-Zukunft?

Blick in die brasilianische Auto-Zukunft?

Foto: Auto-Medienportal.Net/Hans-Robert Richarz


Fiat Toro.

Fiat Toro.

Foto: Auto-Medienportal.Net/Hans-Robert Richarz