Im Bücherregal: Die ganze Wahrheit über den VW Käfer
1. Februar 2025 Von Hans-Robert Richarz
So behauptete noch die kürzlich bei „arte“ ausgestrahlte dreiteilige Dokumentation „Vom Motorwagen zum Boliden – Die Geschichte des Automobils“ im Zusammenhang mit dem Nachholbedarf der Motorisierung in Deutschland Mitte der 1930er Jahre wörtlich: „Also gab Adolf Hitler Ferdinand Porsche den Auftrag, das deutsche Volksauto, den Volkswagen zu erfinden.“ Das ist nur die halbe Wahrheit.
Die Idee zum Volkswagen war zu jener Zeit längst geboren, nämlich 1925 von Béla Barényi, einem damals 18-jährigen Maschinenbaustudenten am „Wiener Technikum“. Porsche brauchte also lediglich dessen Einfall von der Theorie in die Praxis umzusetzen und damit den Anstoß geben, dass vom VW Käfer zwischen Ende 1938 bis Sommer 2003 über 21,5 Millionen Exemplare gebaut wurden.
Das und die Tatsache, dass Barényis Erfindung in diesem Jahr 100 Jahre alt wird, war für den Hamburger Journalisten Harald Kaiser Anlass, das E-Book „Vor 100 Jahren“ zu verfassen. Dabei schlägt der Autor, der 1993 das letzte Interview mit dem vier Jahre später im Alter von 90 Jahren gestorbenen Barényi führte, einen hoch interessanten Bogen von der ersten Skizze des jungen Studenten aus Wien vor 100 Jahren über dessen spätere glanzvolle Karriere als Leiter der Vorentwicklung bei Daimler-Benz mit 2500 Patenten bis zum Aufstieg des Käfers parallel zum deutschen Wirtschaftswunder und seiner Wiedergeburt als VW Beetle 2010.
„Wie der künftige Volkswagen aussehen könnte, zeigte eine grobe Designskizze Barényis von 1925/26. Eine kurze und relativ hohe Frontpartie mit steil stehender Windschutzscheibe, verdeckten Rädern und einer gestreckten Langheck-Karosserie in Stromlinienausführung. Der Sinn dieser Windschlüpfigkeit war, durch das betont ausgeprägte Heck, das wenig Luftverwirbelung verursacht, Sprit zu sparen“, so beschreibt Kaiser die Idee für den späteren Volkswagen.
Ironie in Barényis Lebenslauf: 1931 hatte er sich als 24-jähriger Ingenieur bei Porsche beworben – vier Jahre bevor Ferdinand Porsche drei Prototypen des „KdF-Wagens“ baute – und als Unterlagen seine Konstruktionszeichnungen für seine Volkswagen-Idee beigelegt. Ob er die je wiedergesehen hat, blieb ungeklärt.
Als jedoch Anfang der 1950er Jahre in einem Buch die Behauptung auftauchte, der alleinige Erfinder des Volkswagen sei Ferdinand Porsche gewesen, und Béla Barényi sei nichts anderes als ein Spinner, ging ihm das über die Hutschnur. In einem mehrjährigen Prozess, der erst im Oktober 1955 vor dem Bundesgerichtshof endete, bekam er Recht, die Autoren mussten ihre Behauptungen widerrufen. Eine finanzielle Entschädigung hat er aber nie erhalten. Er war schlicht und einfach prozessmüde, wie Barényi später erzählte. Außerdem habe ihm das nötige Geld für ein Verfahren gegen Porsche und die Volkswagen AG gefehlt. Drei Jahre vor seinem Tod bescheinigte ihm der „Spiegel“ in Heft 36/1994: „Barényi gilt als der große Bestohlene des Automobilbaus.“
Kein Zweifel, so wie Béla Barényi sich als Ingenieur bei Daimler-Benz in Stuttgart als Genie in puncto Fahrzeugsicherheit erwies und 1994 wegen seiner Verdienste in die Hall of Fame der weltbesten Fahrzeugkonstrukteure aufgenommen wurde, prägte der Volkswagen Käfer die Motorisierung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Wie der Wagen die Welt eroberte und wer an diesem Siegeszug maßgeblich beteiligt war, welche Kuriositäten den Käfer begleiteten und wie er zum Symbol der Klassenlosigkeit wurde, auch das findet in mehreren Kapiteln Platz.
Ein wirklich empfehlenswertes Buch sowohl für Leser, die in den 1950er Jahren mit dem Autofahren anfingen und in Erinnerungen schwelgen können als auch deren Kinder. Die werden sich kaum noch vorstellen können, dass ein Fahrzeug mit 30 PS (Modelljahr 1960) und das erst nach langer Anlaufzeit ein Tempo knapp jenseits der 100 km/h-Grenze erreichte, damals das Wirtschaftswunder prägte.
„Vor 100 Jahren“ von Harald Kaiser hat 120 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Es ist als E-Book in der Blickwinkel-Edition und unter dem Internet-Link
https://play.google.com/books/publish/a/16390835884793638333#book/GGKEY:E2ATFS4KY4X/review zum Preis von 10,20 Euro erhältlich. (aum)
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