Praxistest Nio ET5: Mehr Auto fürs Geld

Mit breiter Brust und reichlich Selbstbewusstsein erschien Nio vergangenen Herbst auf dem deutschen Markt. In Kürze wird das fünfte reinelektrische Modell der chinesischen Marke vorgestellt. Die Limousine ET5 wird als direkter Konkurrent zu Teslas Model 3 angesehen. Schaut man sich beide an, muss man feststellen, dass die beiden Viertürer bei etlichen Parametern um einiges auseinanderliegen.

Mit 4,79 Metern ist das chinesische Auto rund zehn Zentimeter länger als der Tesla aus Grünheide, in der Kabinenbreite vorn hat der ET5 sechs Zentimeter mehr zu bieten und die zweite Reihe hält sogar acht Zentimeter mehr Bewegungsspielraum vor. Die Ladekante zum mit 386 Litern nur mäßig großem Kofferraum ist beim Nio zwei Zentimeter niedriger, genauso viel, wie die Klappe weiter nach oben ragt. Allerdings bietet Teslas Mittelklasse stolze 175 Liter mehr Gepäckraumvolumen. Er ist leichter, bietet aber auch rund 70 Kilo weniger erlaubte Zuladung. Mit der für die Nutzer relevanten Vergleichbarkeit ist es also doch nicht so weit her.

Der Nio ET5 glänzt mit einem makellos aufgeräumten Cockpit, die Zahl der Bedienelemente ist extrem reduziert, unter anderem deshalb, weil die Steuerungstasten am Lenkrad mit mehreren Funktionen zugleich belegt sind. Ausgewählt wird über den Touchscreen des zentralen Monitors. Und dann gibt es ja auch noch Nomi, die tennisballgroße Reisebegleiterin, die mittig auf dem Armaturenbrett thront und per Sprachbefehl gern Aufgaben wie Scheibenöffnung, Klimaverstellung oder Sendersuche im Radio übernimmt. Außerdem wacht sie über die lenkende Person.

Ordnungsrufe vom virtuellen Mitfahrer

Ja, tatsächlich. Aber das nicht immer zur Freude des Fahrers. Übereifrig meldet sie sich mit „Bleiben Sie konzentriert“ zu Wort, wenn man mal händisch selbst eine Funktion über den Bildschirm aufrufen will. Schon der kurze Blick weg von der Straße auf den Monitor wird registriert und hat den Ordnungsruf zur Folge. Das nervt zuweilen. Eine sehr unangenehme Überraschung kann erleben, wer versäumt, im Menü „Fenster und Türen“ (wo auch die Ladeklappen-Taste versteckt ist) die Funktionen „Türgriffe einklappen“ und „Verriegeln beim Weggehen“ außer Kraft zu setzen. Mitunter ist nach einem kurzen Stopp am Briefkasten dann das Fahrzeug verschlossen und der Schlüssel liegt drinnen.

Helfen kann in solchen Fällen die Online-Entriegelung per Nio-App. Was aber, wenn auch das Smartphone im Auto geblieben ist? Dass überhaupt eine Selbstverriegelung technisch möglich ist, wenn der Schlüssel im Fahrzeug zurückgelassen wird, begründet der Hersteller mit Sicherheitsaspekten. Zwar wäre es nachvollziehbar, wenn China gemeinsam mit den Autos auch seine Vorstellungen von Sicherheit zu exportieren versuchte, in Europa darf das aber getrost kritisch gesehen werden.

Ein Schwachpunkt der Übersichtlichkeit offenbart sich bei Blick in den Rückspiegel: Das Heckfenster ist nicht nur äußerst schmal, die Sicht wird auch noch von den drei hinteren Kopfstützen eingeschränkt, die sich nicht abklappen lassen. Als Trostpflaster sind Rückfahrkamera und 360-Grad-Rundumsicht serienmäßig. Eine andere Form der Sichtbehinderung ist auf dem Navigationsmonitor zu beobachten: Eine genordete Kartengrafik, wie sie viele Fahrer bevorzugen, ist nicht darstellbar. Wer sich mit der abweichenden Logik der Fensterheber-Tasten nicht anzufreunden vermag, überlässt die Außenluft-Zufuhr am besten gleich Nomi.

Komplett-Ausstattung zum erstaunlichen Preis

Grundsätzlich sind Nio-Fahrzeuge mit allem ausgestattet, was das Fahren sicher und angenehm macht. Das übliche Arsenal an visuellen, Radar- und Lidar-gestützen Assistenten ist ebenso vorhanden wie ein Dutzend Kameras und Ultraschallsensoren. Freilich lassen sich auch diverse Sonderwünsche erfüllen wie spezielle Lackfarben oder Felgen, Vordersitzbelüftung und Rücksitzheizung. Für den Testwagen ruft Nio einen Preis von knapp 50.000 Euro auf, dazu kommen 289 Euro monatliche Miete für die 100-kW-Batterie oder 21.000 Euro beim Kauf. Doch auch 70.000 Euro liegen deutlich unter dem, was deutsche Hersteller für vergleichbare Erzeugnisse verlangen. Angesichts dessen scheint die Ankündigung der EU-Kommission, chinesische Hersteller auf etwaige verbotene Subventionen zu überprüfen, plausibel.

Auch wenn die im Auto versammelte künstliche Intelligenz und die natürliche Dummheit von Nutzern manchmal hart aufeinanderprallen, offenbart die umfangreiche Sensorik dennoch viel Nützliches. Beim Rangieren etwa wird der Abstand zum nächsten Hindernis auf dem Kamerabild des Monitors in Zentimetern angegeben. Das ist viel informativer und realitätsnäher als anschwellende Pieptöne. Die erhobene Datenfülle reicht so weit, dass selbst auf dem virtuellen Autoabbild des Zentraldisplays Bremslicht- oder Blinker-Funktion angezeigt werden. Im Fahrzeugmenü kann man auch erfahren, dass an heißen Tagen bis zu 15 Prozent des Stromeinsatzes für die Klimasteuerung draufgehen.

Im Falle der 100-kWh-Batterie (es gibt den ET5 auch mit 75 kWh) fällt das aber nicht weiter ins Gewicht. Bei randvollem Akku versprach der Testwagen 539 Kilometer Reichweite, deren Abnahme der tatsächlich zurückgelegten Strecke. 590 Kilometer gibt der Hersteller als Maximum an. Allerdings ist das Nachladen bei niedrigem Füllstand an der gewöhnlichen 22-kW-Säule ein mühsames Geschäft. Da kann es schon mal sechs oder acht Stunden dauern. Es empfiehlt sich grundsätzlich die Schnell-Ladesäule, wo – wie getestet – während eines zehnminütigen Einkaufsstopps 150 zusätzliche Kilometer eingepackt werden können. Nio-Pkw sind außerdem mit Wechselakkus bestückt, jedoch befindet sich das Netz der Austauschstationen erst im Aufbau.

Brachiale Beschleunigungskraft

Einen Startknopf gibt es nicht, Türen schließen und los geht’s. Das Fahren selbst ist kaum anders als komfortabel und angenehm zu beschreiben. Die zwischen „Komfort“ und „Benutzerdefiniert“ gespreizten fünf Fahrmodi sind durch Rekuperationsverzögerung, Fahrpedalsensibilität und Lenkverhalten gut voneinander zu unterscheiden. Bis auf die etwas hölzern wirkende Dämpferregelung auf schlechter Wegstrecke ist nichts zu bemängeln, die Ruhe im Fahrzeug trägt ihren Teil zur allgemeinen Entspannung bei. Abhängig von Fahrbahnbelag können in der Kabine bei Tempo 100 weniger als 60 dB(A) gemessen werden. Selbst wenn die brachiale Beschleunigungskraft des „Sport+“-Modus zur Anwendung kommt, die den 2,2-Tonner in vier Sekunden auf Landstraßentempo katapultiert, überwiegt die Ruhe.

Kein Problem ist es, im Stadt- und Kurzstreckenverkehr, wo im „Eco“-Modus immer wieder rekuperiert werden kann, mit dem Verbrauch unter 20 kWh je 100 Kilometer zu bleiben. Auf einer definierten Testrunde wurden 18,6 kWh protokolliert. Doch auch bei zügiger Überlandfahrt geht der Stromkonsum selten über 22 kWh hinaus. Das Auto hilft, den Überblick zu behalten und gegebenenfalls den Fahrstil anzupassen, denn gemittelte Daten auf Monats- oder Jahresbasis sind im Display abrufbar.

Fazit: Die ET5-Limousine besticht durch hohes Technik- und Komfortniveau. Leistung und Platzangebot stimmen, und wer sich auf gelegentliche Eigenmächtigkeiten der Elektronik eingestellt hat, kann viel Freude mit dem Wagen haben. Das Preis-Leistungs-Verhältnis wird im Wettbewerbsumfeld nicht zu Unrecht als Bedrohung wahrgenommen. (cen/afb)

Daten Nio ET5

Länge x Breite x Höhe (m): 4,79 x 1,96 x 1,50
Radstand (m): 2,89
Antrieb: 2 E-Motoren, AWD, 1-stufiges Reduktionsgetriebe
Leistung: 360 kW / 490 PS
Max. Drehmoment: 700 Nm
Höchstgeschwindigkeit: 200 km/h
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 4,0 Sek.
WLTP-Durchschnittsverbrauch: 18,6 kWh/100 km
Testverbrauch: 17,4 kWh
Batteriegröße: 100 kWh
Noirmreichweite: max. 590 km
Leergewicht Testwagen / Zuladung: 2240 kg / 455 kg
Kofferraumvolumen: 386 Liter
Basispreis: 47.500 Euro (ohne Batterie)
Batteriemiete: 289 Euro/Monat
Testwagenpreis: 49.003 Euro (ohne Batterie)


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Nio ET5.

Nio ET5.

Foto: Autoren-Union Mobilität/Axel F. Busse


Nio ET5.

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Nio ET5.

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Nio ET5.

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